Totzeit
Es gibt für alles eine Zeit, sagt uns die Bibel im Buch Kohelet. Es gibt unglaublich viele Begriffe, die mit dem Wort Zeit verbunden werden. Totzeit ist eine Zeit, die mir im Arbeitsalltag im Labor oft begegnet ist. Jetzt, beim Blick auf Karfreitag und mit dem Begriff „Zeit“ im Hinterkopf, fällt mir dieses Wort wieder ein.
„Totzeit“ kenne ich aus der Chromatographie. Sie meint – einfach ausgedrückt – die Zeit, die eine Substanz für den Weg durch ein Chromatographiesystem ab der Injektion bis zum Detektor braucht, wenn sie sich durch die stationäre Phase in der Trennsäule nicht aufhalten lässt, also die kürzest mögliche Zeit, um den Weg zurückzulegen. Setzt voraus, dass die Substanz jegliche Interaktion mit anderen chemischen Substanzen in der Säule konsequent verweigert.
So kann ich auch durch das Leben gehen, wenn ich ein Ziel vor Augen habe, das ich ohne Umschweife erreichen will: Ich denke nur an dieses Ziel und ignoriere alles, was mir das Leben sonst noch bietet. Ich nehme mir für nichts anderes mehr Zeit und vermeide alles, was mich aufhalten könnte.
Aber ist es das, was mit Leben gemeint ist? Wenn ich auf nur eine Idee ausgerichtet bin und für alles andere wie tot bin? Was hätte ich dann letztlich von meinem Leben gehabt außer ungenutzten Lebenschancen, die ich einem Ziel geopfert habe? Andererseits: Ist das mein Leben, wenn ich mich ziellos treiben und immer wieder ablenken lasse? Wie gestalte ich mein Leben zwischen diesen beiden Polen?
Der Gedanke an Karfreitag erinnert mich daran, dass der Tod früher oder später für jedes Leben die Ziellinie markiert, und dass es keine Frage der Zeit ist, ob ein Leben gelebt oder verpasst wurde. Was ist wesentlich?
Hiltrud Bibo